Diese Seite hat eine durchschnittliche Bewertung von %r von maximal 5 Sternen. Total sind %t Bewertung vorhanden.
Lesezeit 5 Minuten Lesezeit 5 Minuten
Erstellt am 08.04.2019 | Aktualisiert am 09.06.2020

Auch im Alltag ein bisschen «digitaler Nomade» sein

Mit Homeoffice haben in den letzten Monaten viele Arbeitnehmende Erfahrungen gesammelt. Das Leben als digitaler Nomade hingegen ist für die meisten meilenweit von der eigenen Berufsrealität entfernt. Lorenz Ramseyer ist Experte für ortsunabhängiges Arbeiten und erklärt, was hinter dem digitalen Nomadentum steckt. Und warum Unternehmen (weiter) in ortsunabhängiges Arbeiten investieren sollten.

Was sind eigentlich digitale Nomaden?

Lorenz Ramseyer: Digitale Nomaden sind Angestellte, Freelancer oder Unternehmer, die hauptsächlich mit digitalen Technologien arbeiten. Laptop, Smartphone und verschiedene Online-Applikationen sind ihre wichtigsten Arbeitsgeräte, ausser Strom und einer kabellosen Internetverbindung brauchen sie in der Regel keine Infrastruktur. Daher können digitale Nomaden überall arbeiten und führen oft ein ortsunabhängiges Leben oder haben mehrere Wohn- und Arbeitsorte. 

Ist das digitale Nomadentum also einfach ein neues Arbeitsmodell?

Nein, es ist weit mehr als das. Es ist ein eigener Lifestyle. Das Ziel der digitalen Nomaden ist es nicht, Millionär im herkömmlichen Sinn zu werden, sondern – wie ich es sage – Zeit-Millionär. Zeit für Reisen, für Familie, für Freunde ist vielen digitalen Nomaden besonders wichtig.

Wen betrifft das ortsunabhängiges Arbeiten überhaupt?

Über die Hälfte der Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind sogenannte Knowledge-Worker. Sie sind nicht an eine spezifische Arbeitsumgebung gebunden und hätten die Möglichkeit, ortsunabhängig zu arbeiten. Bereits ein Drittel davon tut das auch gelegentlich. Das digitale Nomadentum ist also nicht auf Freelancer im Ausland beschränkt. Es lässt sich auch in den Alltag von Festangestellten integrieren: punktuell und in der Schweiz

Warum sollte ein Unternehmen in ortsunabhängiges Arbeiten investieren?

Um sich auf eine neue Arbeitswelt vorzubereiten. In Zukunft wird noch viel mehr ortsunabhängig gearbeitet werden. Führungspersonen und Angestellte werden anders kommunizieren, neue Kanäle und neue Zusammenarbeitsformen nutzen. Das muss man trainieren.

Ist es primär ein «Müssen»? Oder zeichnet sich schon heute ein konkreter Nutzen ab?

Es lohnt sich in vielfacher Hinsicht: Für die jüngere Generation ist die Flexibilisierung bestehender Arbeitsmodelle eine Selbstverständlichkeit. Ein Unternehmen, das dieser Forderung entspricht, ist attraktiv und erhält zufriedene, motivierte Mitarbeitende. Zudem profitieren Unternehmen auch punkto Wirtschaftlichkeit: Zum Beispiel sind Videokonferenzen kürzer und effizienter als herkömmliche Sitzungen, Reisekosten fallen weg. Als letztes wären gesamtgesellschaftliche Effekte zu nennen: Familie und Beruf sind besser vereinbar, sogar die Abwanderung aus entlegenen Gebieten könnte gebremst werden, weil Arbeit und Wohnort nicht mehr so eng gekoppelt sind.

Für die erwähnten Knowledge-Worker klingt das vielversprechend, aber profitieren davon auch traditionelle, analoge Handwerksberufe?

Ja. Auch dort fallen administrative Aufgaben an, die im Zug, draussen oder in einem geteilten Arbeitsraum erledigt werden können.

Gibt es auch Verlierer?

Gewisse Befürchtungen sind berechtigt: Wir werden uns künftig auf einem weltweiten Arbeitsmarkt um Stellen bemühen. Zum Kreis der Bewerber gehören dann nicht diejenigen, die im Umkreis eines Arbeitsplatzes wohnen, sondern alle, die auf zum geforderten Stellenprofil passen. Wer die Werkzeuge nicht kennt, um an diesem digitalen Stellenmarkt teilzuhaben, hat einen grossen Nachteil. Der «digital gap» wird grösser.

Die Digitalisierung klopft nicht höflich an die Türe.
Lorenz Ramseyer, Experte für ortsunabhängiges Arbeiten

Wie gut sind wir in der Schweiz auf diese Veränderung vorbereitet?

Wir sind für meinen Geschmack noch etwas zu träge. Es gibt Beispiele von Ländern, die der Schweiz nicht unähnlich sind, die jedoch wesentlich weiter sind: Finnland zum Beispiel, Schweden oder die Niederlande, wo gerade kürzlich gesetzlich verankert wurde, dass jeder Arbeitnehmer mit 100% Pensum Anrecht auf einen Tag Homeoffice hat. Solche Vorstösse vermisse ich in der Schweiz.

Warum hinkt die Schweiz hinterher?

Zum einen, weil wir in vielen Unternehmen – wohl auch nach dem Corona-verordneten Homeoffice – immer noch eine ausgeprägte Präsenzkultur vorherrscht: Wenn man anwesend ist, arbeitet man. Und wenn man nicht anwesend ist, wird davon ausgegangen, dass man nicht arbeitet. Zum andern aber wahrscheinlich auch, weil es uns fast zu gut geht – der Druck fehlt. Druck wäre aber wichtig, denn die digitale Transformation der Arbeitswelt ist kein Prozess, der höflich an die Türe klopft und um Einlass bittet. Sie erscheint plötzlich auf der Bildfläche und setzt uns unter Zugzwang. Hier ist auch die Politik gefordert.

Wo besteht konkret Handlungsbedarf?

Viele digitale Nomaden sind als Freelancer tätig und damit arbeitsrechtlich kaum geschützt. Sie müssen sichselber um ihre Vorsorge und ihre Versicherungen kümmern. Wir sind daher in Gesprächen mit Gewerkschaften und Berufsverbänden, wo wir genau solche Fragen diskutieren. Auch Steuern sind ein Thema: Grundsätzlich ist es so, dass Personen in dem Land, in dem sie arbeiten, steuerpflichtig sind. Es gibt aber Grauzonen: Zum Beispiel, wenn sich jemand in der Schweiz abmeldet, mit einem Touristenvisum in ein Land einreist und dort an digitalen Projekten arbeitet. Steuerbehörden sind meiner Meinung nach von diesen Formen der virtuellen Arbeit noch ein wenig überfordert.

Ortsunabhängige Arbeitsformen werfen ethische Fragen auf: Besteht nicht die Gefahr, dass damit die Ungerechtigkeit der Welt ausgenutzt wird – hohe Löhne in der Schweiz, tiefe Lebenshaltungskosten im Ausland?

Die Ausnutzung dieses Ungleichgewichts – der sogenannten Geo-Arbitrage – kann eine neue Form von Kolonialismus sein, klar. Das machen sich grosse Firmen zu Nutze, indem sie Angestellte entlassen und andernorts Freelancer einstellen, um Kosten zu sparen. Das individuelle, digitale Nomadentum ist gemäss meiner Erfahrung aber eher eine Form von Entwicklungshilfe. Viele digitale Nomaden sind in Hilfsprojekten tätig oder arbeiten mit Arbeitskräften vor Ort zusammen und ermöglichen diesen so den Zugang zu einem neuen internationalen Markt.

Und noch ein praktischer Tipp: Welche Tools sind für digitale Nomaden besonders hilfreich?

Für kreative Aufgaben finde ich SimpleMind toll. Es ist eine App fürs Handy, die es einem erlaubt, auf sehr einfache Art und Weise Mindmaps und Notizen zu erstellen – zum Beispiel auch, während man gleichzeitig einen Podcast hört. Und wenn es ums Durchführen von Videokonferenzen geht, empfehle ich appear.in. Bei appear.in können bis zu vier Teilnehmende ohne Download und Passwörter direkt im Webbrowser eine Konferenz auf Augenhöhe abhalten. Und als Organisationstool verwende ich bei den meisten meiner Projekte Trello. Aufgaben werden mit virtuellen Post-it-Zetteln erstellt, terminiert und verschiedenen Teammitgliedern zugeordnet.

Über Lorenz Ramseyer

Lorenz Ramseyser

Lorenz Ramseyer beschäftigt sich seit 2006 intensiv mit dem ortsunabhängigen Arbeiten. Er ist Präsident des Vereins Digitale Nomaden Schweiz und bietet Beratung und Coaching für ortsunabhängiges Arbeiten an. Ursprünglich absolvierte er eine Lehrerausbildung, ist nach einer Weiterbildung zum Projektleiter Informatik nun aber seit vielen Jahren als IT-Consultant teilselbstständig tätig. 

Du möchtest flexibel arbeiten?

Diese Seite hat eine durchschnittliche Bewertung von %r von maximal 5 Sternen. Total sind %t Bewertung vorhanden.
Sie können die Seite mit 1 bis 5 Sternen bewerten. 5 Sterne ist die beste Bewertung.
Vielen Dank für die Bewertung
Beitrag bewerten

Dies könnte Sie ebenfalls interessieren