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Erstellt am 03.05.2021

Klimakrise: «Wir wissen so viel und gleichzeitig tun wir viel zu wenig»

Reto Knutti ist einer der bekanntesten Klimaforscher der Schweiz. Im Interview zeigt er auf, wo wir als Individuum die grössten Hebel haben, um uns nachhaltig zu verhalten – und weshalb es neben Fakten vor allem Geschichten braucht, um die Gesellschaft zu Taten zu bewegen.

Welche Fakten zum Klimawandel beunruhigen Sie am meisten?

Dies hängt von der Perspektive ab: Aus Sicht der Schweiz ist es die Zunahme der Hitzewellen, der Starkniederschläge und der trockenen Sommer, die Abnahme des Schnees sowie das Schmelzen der Gletscher. Wenn wir die internationalen Auswirkungen betrachten, ist es der Anstieg des Meeresspiegels, das Abschmelzen der grossen Eismassen in Grönland und der Antarktis. Und wenn ich «Fakten zum Klimawandel» etwas breiter interpretiere, ist es die bisherige Unfähigkeit der Gesellschaft und Politik, auf diese Fakten zu reagieren, sie entsprechend ernst zu nehmen und zu handeln. Wir wissen so viel und gleichzeitig tun wir noch fast nichts. Oder anders gesagt: Vom Wissen zum Handeln ist es ein weiter Weg.

Was würde uns auf dem Weg vom Wissen zum Handeln helfen?

Es braucht technologische Fortschritte, die funktionieren, die spannend und besser sind. Man sieht dies am Auto: Ein Elektromobil muss dem Benziner überlegen sein, damit die Leute es kaufen. Dann braucht es eine Lenkung – sei dies in Form von Vorgaben, wirtschaftlichen Anreizen oder beidem. Weiter braucht es die Bereitschaft, die Klimakrise als Krise zu anerkennen und mit der nötigen Dringlichkeit zu handeln, wie dies auch die Aktivistin Greta Thunberg fordert. Und schliesslich braucht es Geschichten, mit denen sich die Leute identifizieren können. Die Fridays for Future waren eine solche Geschichte, die die Menschen gepackt hat. Denn alleine mit den nackten Zahlen aus der Klimaforschung können wir wenig bewegen.

Weshalb?

Die Zahlen sind sehr wichtig. Sie sind die Grundlage, die nötig ist, um das Problem überhaupt zu verstehen. Anhand der Zahlen aus der Klimaforschung können wir aufzeigen, welche Auswirkungen die Klimakrise hat und welche Lösungen es geben könnte. Doch mit den Zahlen allein kommen wir nicht weit. Die Gesellschaft muss Visionen entwickeln und aufzeigen, wie die Zukunft der Schweiz und der Welt aussehen könnte. Dies ist ein Prozess, von dem die Zahlen nur ein Teil sind. 

Wie wichtig ist denn überhaupt der Beitrag jedes Einzelnen zur Senkung des CO2-Verbrauchs?

Wenn wir ein kollektives Problem lösen wollen, ist es immer die Summe von kleinen Beiträgen. Jeder muss und kann etwas beitragen. Wir alle fällen jeden Tag Entscheidungen, die den Ressourcenbedarf betreffen – sei dies, welches Fahrzeug wir fahren oder ob wir überhaupt eines nutzen, wie wir uns ernähren, wo wir in die Ferien gehen. Entsprechend können wir selbst vieles beeinflussen.

Wo haben wir als Individuen die grössten Hebel, um den CO2-Verbrauch zu senken?

Unser Ziel muss Netto Null sein. Und wenn es darum geht, null Treibhausgase auszustossen, muss jede und jeder in jedem einzelnen Bereich auf null kommen. Jedoch gibt es Hebel, die eine grössere Wirkung haben als andere, wie zum Beispiel beim Strassenverkehr, der in der Schweiz 26 Prozent der Treibhausgase verursacht, ein grosser Teil davon vom privaten Freizeitverkehr. Indem man entweder weniger Auto fährt oder zumindest ein kleineres, leichteres Fahrzeug oder ein Elektrofahrzeug nutzt, kann man einen grossen Beitrag leisten – wie auch beim Fliegen, auf das weitere 20 Prozent des Treibhausgasausstosses der Schweiz fallen. Wie hoch dieser Anteil ist, zeigt ein Blick auf den weltweiten Durchschnittswert: Er liegt bei rund 3 Prozent. Zurückzuführen ist dies auf den Reichtum in der Schweiz und die damit verbundene Reiselust. Australien retour entspricht in etwa dem Treibhausgasausstoss einer Schweizerin bzw. eines Schweizers in einem Jahr. Mit einem solchen Flug verdoppelt man seinen Fussabdruck auf einmal – oder verkleinert ihn entsprechend. Weiteres grösseres Einsparpotenzial liegt beim Ersatz von Ölheizungen – falls man dies zum Beispiel als Hausbesitzerin oder -besitzer selbst entscheiden kann – oder bei der Reduktion des Konsums von Fleisch und anderen tierischen Produkten. Was ich aber ganz wichtig finde: Wir dürfen nicht alles auf die Eigenverantwortung abwälzen.

Weshalb ist die Eigenverantwortung allein kein gutes Rezept?

Im Umweltbereich haben wir noch nie ein Problem gelöst, indem wir es den Individuen selbst überlassen haben – weder beim Abwasser noch bei der Luftqualität oder dem Ozonloch. Wir können die Probleme nur lösen, wenn klare Regeln für alle herrschen. Dies haben wir ja auch bei der Corona-Krise gesehen: Es brauchte eine Pflicht, Masken zu tragen.  

Apropos Corona-Krise: Welchen Effekt hat sie auf das Klima?

Die direkten Auswirkungen auf das Klima sind vernachlässigbar, weil die industrielle Produktion und viele andere Prozesse, die CO2 verursachen, im Normalbetrieb weitergelaufen sind. Wenn die Corona-Krise einen Effekt hat, dann vielleicht jenen, dass wir endlich merken, dass eine Krise auch als Krise behandelt werden muss – mit zeitlichem Hochdruck und Dampf. Für eine Krisenbewältigung reicht schweizerisches Mittelmass nicht.

Weshalb sind Sie Klimaforscher geworden?

Aus Zufall. Ich habe Physik studiert und wollte mich mit Computermodellierung beschäftigen. Zudem haben mich das Wetter und die Umwelt schon immer interessiert. Ich bin ja auch in den Bergen aufgewachsen. Dies führte schliesslich dazu, dass ich meine Diplomarbeit zu einem Thema der Klimaforschung verfasste und mich diese Disziplin nicht mehr losliess. Ich war also kein Klimaaktivist, der zum Klimaforscher geworden ist, um die Welt zu retten. In der Öffentlichkeit bemerkbar gemacht habe ich mich erst in den letzten Jahren. Ich arbeitete an verschiedenen internationalen Klimaberichten mit und habe immer mehr gemerkt, dass es nicht reicht, über Zahlen zu reden. Vielmehr brauchen diese Zahlen eine Synthese und Interpretation. Das Klima ist nicht nur eine Frage der Physik und Chemie, sondern es muss im Gesamtzusammenhang betrachtet werden – mit allen rechtlichen, wirtschaftlichen, psychologischen und politischen Aspekten. Deshalb begann ich mich auch zu engagieren. Es braucht ein paar Stimmen, die die Zahlen aus der Klimaforschung in den Kontext setzen und in die Gesellschaft heraustragen.

Wie wichtig ist es, dass die aktuelle Klimabewegung jetzt weitergeht?

Ich weiss nicht, ob sie in der gleichen Form mit den Klimastreiks weitergehen muss. Aber sicher ist, dass die junge Generation es geschafft hat, dass das Thema plötzlich in der Wirtschaft und Politik angekommen ist und dass grössere Teile der Bevölkerung sagen: «Jetzt muss etwas passieren.» Die Klimabewegung hat auch bewirkt, dass viele die Zukunft aktiv mitgestalten wollen. Dieses Potenzial sollte keinesfalls ungenutzt verpuffen. 

Wie lange haben wir noch Zeit, um den Kurs zu ändern?

Wir müssen so schnell wie möglich so viel wie möglich machen. Jedes Jahr zählt, jede Tonne zählt, jedes Zehntel Grad zählt. Einen konkreten Rahmen geben die Klimaziele von Paris vor: Wir müssen die Treibhausgasemissionen bis 2030 halbieren und das Netto-Null-Ziel vor 2050 erreichen. Das bedeutet eine Revolution des globalen Energiesystems innerhalb der nächsten 30 Jahre. Diese Herausforderung gilt es anzupacken – jetzt.

Reto Knutti
Foto: Manuel Rickenbacher

Der Link öffnet sich in einem neuen Fenster Reto Knutti ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich und einer der bekanntesten Klimaforscher der Schweiz. Er ist Mitautor von verschiedenen nationalen und internationalen Klimaberichten.

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